Schafhirte
Ein seltsamer Titel; ein seltenes Thema. Eine nicht ganz dumme Idee: als Schafhirte zu leben. Ich kam auf den Gedanken, als ich diesen Sommer in den Alpen war.
Barfuss und mit hochgekrempelten Jeans rannte ich über Weiden hinweg, um meinen Hund von einer Schafherde abzulenken. Reichlich atemlos - die Sonne brannte und von Wind keine Spur - blieb ich unter einem Baum stehen. Schafe. Vor und hinter uns, überall Schafe. Da erblickte ich den Herrn der Herde: ein grossgewachsener, junger Mann. Blondes Haar, sonnenbraune Haut und alte Jeans. Ein aufgeweckter Hirtenhund an seiner Seite. - Wieso wohl lebt ein junger Mann bei einer Schafherde? - mein erster Gedanke. Fragen wollte ich nicht, also machte ich meine Augen auf; versuchte, ein wenig in seinem Gesicht zu lesen.
Glücklich - wohl das passendste Wort für seinen Gesichtsausdruck. Für ihn ist Wirklichkeit, was für uns fast Klischee ist: Ruhe, Frieden und Freiheit. Er lebt mit der Natur, er ist beinahe ein Stück von ihr. Ehrgeiz, Karriere und Millionen - das werden für ihn wohl Fremdwörter sein. - So dachte ich, als ich meinen Hund kraulend im Schatten des Baumes stand. Und fast schien mir diese Welt unerreichbar. Denn ich musste wieder zurück.
Doch der Eindruck dieser Welt blieb. Ganz zufällig wurde ich wieder auf den Schafhirten aufmerksam. Nicht auf jenen, den ich getroffen hatte. Mehr auf seine Welt, seine Art zu leben. Es geschah an einem gewöhnlichen Tag:
Ein Anruf im Geschäft. Eine vertraute Stimme, die ich seit einiger Zeit nicht mehr gehört hatte. Ein Heraussprudeln von Ferienerlebnissen. Und ein plötzliches Aufhorchen meinerseits: - Was, den kennst du auch??! - So erfuhr ich, dass ein alter Freund von mir - seit ein paar Jahren begehrter Junggeselle und zukünftiger Karrieremann - jawohl, Sie lesen richtig, Schafhirte geworden ist! Meine Gedanken wirbelten herum. Die Welt des Schafhirten und meine Erinnerungen daran kamen zurück. Und wieder stellte ich mir die Frage: Wieso lebt er als Schafhirte?
Ich kenne ihn und seine Lebensart. Deshalb wollte ich die Gründe für seine neue Einstellung finden. High Society und Luxus - sein bisheriges Leben. Und dann hatte er plötzlich davon genug. Ich kann es ihm nachfühlen. Denn daraus entsteht nur ein stumpfes, abgedroschenes Leben. Sie werden nun vielleicht sagen: - Jetzt kommt das alte Lied contra Gesellschaft. - Und Sie haben recht. Es kommt.
Gesellschaft - lies Verpflichtungen, Schemas, Falschheit, Skrupellosigkeit. Jeder spielt seine Rolle um zu gefallen. Um zu seinem Ziel zu gelangen. Ein fragliches Ziel. Geld, Stress bis zum Herzinfarkt, keine Freunde und viel Neid - ist das erstrebenswert? Bestimmt nicht, werden Sie sagen. Doch so ist es; meistens. Hat aber jemand den Mut, sich dagegen zu wehren, wird er als Nichtsnutz abgetan. Schöne, heile Gesellschaft. Mit Sex aufpoliert und mit „musts“ übersättigt.
Schafhirte. Sein Leben in Gesellschaft und Wohlstand hat er aufgegeben. Er sucht eine bessere Welt. Zu viele Menschen mit Maske, zuviel Hass und Geldgier hat er gesehen. Er versucht, sich von allem Zwang zu lösen, innerlich frei zu werden. Denn es gibt wichtigere Dinge als Moneten und Macht. Auf seiner Alp mit seiner Schafherde wird er sie finden. In alten Jeans und mit sonnengebräunter Haut. Einen Hund als ständigen Begleiter. Die Natur als seine Heimat. Er wird glücklich sein. Glücklicher als die meisten von uns. Können Sie sich das vorstellen?